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© 2023 by Heinz Hermann Maria Hoppe. Alle Rechte vorbehalten.
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Kommentar
Autor: Heinz Hermann Maria Hoppe
Unsere persönliche Geschichte ist gekoppelt an die Zeit, in die wir hineingeboren wurden und an den Ort, an dem wir sie als ›unsere Welt‹ erleben. In diesen Zeitabschnitt und in diesen Raumausschnitt setzen wir die Grundpfeiler für unseren Lebensweg. Wir zahlen fortdauernd den Preis für unsere sexuelle Fortpflanzung, wir altern und sterben. Bis dahin schlägt unser Herz, die ganze Zeit über, den Takt der Evolution. Leben in Zeit und Raum bleibt ein Mysterium, auch jenseits der komplizierten Formeln von Einstein und Hawkins und jenseits der abstrakten Vorstellung eines unendlichen, kalten Weltraums.
Zeit ist relativ. Manche Insekten werden am Morgen geboren, sind mittags zeugungsfähig und am Abend tot. Sogar mithilfe eines einzelnen Atoms kann ein Zeitintervall bestimmt werden, wenn es im Vakuum einer Atomuhr gefangen ist: Ein Millionstel einer Milliardstel Sekunde, definiert als Femtosekunde, dauert der Takt von Elektronen, die eine Art ›Pendel‹ bilden. Eine solch phänomenale Uhr geht in 15 Milliarden Jahren noch nicht einmal eine Sekunde nach.1
Der römische Philosoph Seneca beschrieb, dass wir nicht zu wenig Zeit haben, sondern dass wir zu viel Zeit vergeuden. Ein Leben ohne Ziele, angehäuft mit freiwilliger Knechtschaft und mit überflüssiger Plackerei oder mit Nichtstun und mit Vergnügungssüchten, war in seinen Augen kein Leben, sondern einfach nur Zeit, die vergeht.2
Seit dem Zeitalter der Aufklärung begreifen die meisten Menschen ihr Schicksal nicht mehr als von Gott gegeben. Alpha und Omega, Anfang und Ende, liegen demnach auch in unserer Hand. Leben heißt also wählen. Jeder Morgen bietet seither die Chance für einen Neuanfang. Antworten auf entscheidende Fragen des Lebens sind damit aber noch lange nicht gefunden. Wie unsere Vorfahren reflektieren wir unsere Vergangenheit, um aus Erfahrungen Weichenstellungen für die Zukunft abzuleiten. Unsere Lebenszeit verrinnt in der Zwischenzeit wie ›Sand zwischen den Fingern‹. Die kurze Gegenwart, als die einzig mögliche Zeit zum Handeln, ist schnell Geschichte, weil unsere Aufmerksamkeit überwiegend der Zukunft gilt. Rituale und Gewohnheiten reihen sich so aneinander, während wir unseren Alltag mit Blick auf das Smartphone organisieren.
Zeit ist nicht Geld, sondern Leben. Existieren, als würden wir ewig leben, kann am Ende zur bösen Überraschung werden. Wenn ein Herzinfarkt oder ein schwerer Unfall auf der ›Bühne des Lebens‹ erscheinen, kann es zu spät für zentrale Fragen sein: »Soll das schon alles gewesen sein?«, »Warum habe ich nicht mehr Zeit mit den Menschen verbracht, die ich liebe?«, »Welchen Sinn hatte mein Leben?«.
Unsere Gegenwart scheint wieder aus dem Raumgefüge geraten zu sein. Beschleunigung paart sich mit Orientierungslosigkeit. Fortschritt wird infrage gestellt. Hass und Brutalität erstarken. Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit spiegeln sich in den Gesichtern. Die ›Tunnel in die Zukunft‹ sind voller Ängste.
Die Uhr des Lebens schlägt zuverlässig weiter im Takt, bis sich unser persönliches Schicksal in den Lauf der Geschichte einreihen wird. Unsere Erde schleudert sich währenddessen weiterhin unermüdlich mit 107 000 Stundenkilometern in ihrer Umlaufbahn um die Sonne herum. Wir bekommen davon ›natürlich‹ nichts mit.
Quellen:
1 Vgl. Elizabeth Dias, How We Make Sense of Time in: New York Times vom 31. Dezember 2021, abgerufen 03. Januar 2022, 10:40 UTC.
2 Vgl. Seneca, Von der Kürze des Lebens, Reclam 2007, S. 7 ff.